„Weh, mit seinem Zorn umwölkt der Herr die Tochter Zion! Er schleuderte vom Himmel zur Erde die Pracht Israels. Nicht dachte er an den Schemel seiner Füße am Tag seines Zornes. Schonungslos hat der Herr vernichtet alle Fluren Jakobs, niedergerissen in seinem Grimm die Bollwerke der Tochter Juda, zu Boden gestreckt, entweiht das Königtum und seine Fürsten.“ – So beginnt das zweite Klagelied. Was war da geschehen, dass Israel den Zorn Gottes so spürte?
Eine Katastrophe ist eingetreten
Die absolute Katastrophe war eingetreten. Trotz der wiederholten Warnungen Jeremias und anderer Propheten hatte der König Israels das Bündnis mit dem babylonischen Reich aufgekündigt und die Tributzahlungen eingestellt. Die Folge war ein verheerender Kriegszug, die Zerstörung Jerusalems, die Schleifung des Tempels und die Wegführung der gesamten Oberschicht ins Exil nach Babylon.
Alles, was das Volk Israel ausgemacht hat, war damit in Frage gestellt: Die religiöse Mitte war zerstört, Opfer nicht mehr möglich. Es gab keinen König mehr und würde auch keinen mehr geben. Die Heimat, das gelobte Land, war verloren. Das hätte leicht das Ende sein können, das Ende Israels und des Glaubens an Jahwe.
Fehler des eigenen Volks
Aus unserer Perspektive ist es nicht leicht, diesen absoluten Tiefpunkt mitzufühlen. Interessant dabei ist, dass die Dichter der Klagelieder diese Geschehnisse nicht auf irgendwelche Feinde und deren Böswilligkeit abschieben. Sie wissen sehr genau, dass es die Fehler ihres eigenen Volks waren, die diese Katastrophe ausgelöst haben. Und sie deuten das als Zorn Gottes aufgrund dieser Fehler, die einem Abfall vom Weg Gottes gleichkamen.
Wir Christen von heute können dieses Bewusstsein nur schwer nachvollziehen. Ein Gott, der zürnt, zerstört, niederreißt, entweiht? Das ist nicht unser Gottesbild. Aber das Volk Israel führte alles, was geschah, auf den Willen Gottes zurück, nicht nur das Gute. Und so mussten all das Elend und die schreckliche Zerstörung wohl auch das Werk Gottes sein. Und das bedeutete für sie, dass sie auf irgendeine Weise die Gnade und Zuwendung Gottes verspielt hatten.
Tiefe Krise wird zur Chance des Glaubens
In den Klageliedern hören wir Schuldbewusstsein, Trauer, Verzweiflung und immer wieder auch die Frage „Warum?“ „Weh uns, wir haben gesündigt!“, beten diese Lieder, „Darum ist krank unser Herz, darum sind trüb unsere Augen über den Zionsberg, der verwüstet liegt; Füchse laufen dort umher. … Warum willst du uns für immer vergessen, uns verlassen fürs ganze Leben? Lass du, HERR, uns zurückkehren zu dir, dann kehren wir um!“