München – Religiösen „Fanatismus“ im Sinne der rücksichts- und kompromisslosen Durchsetzung eigener Interessen gegen Widerstrebende unter Berufung auf religiöse Gewissheiten, wenn nötig mit Gewalt, hat es in der menschlichen Geschichte zu allen Zeiten gegeben. Ebenso gab es immer auch extreme Formen von Frömmigkeit, die Bereitschaft zur Selbstopferung eingeschlossen. Das gilt, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß, für alle Religionen.
Das Prinzip der religiösen Toleranz hat sich als allgemein anerkanntes Prinzip des sozialen Gemeinschaftslebens und der politischen Gleichheit erst in neuerer Zeit in den Ländern eingebürgert, die dem normativen Leitbild der modernen Kultur folgen. Dem waren in Europa fast zwei Jahrhunderte religiöser Bürgerkriege vorausgegangen, die blutig demonstriert hatten, dass der Weg religiöser beziehungsweise konfessioneller Alleinherrschaft über ganze Länder an sein Ende gekommen war. Dauerhafter Religionsfriede durch rechtlich garantierte Selbstbestimmung in Glaubensfragen im Rahmen gesicherter Rechtstaatlichkeit ist seit dem neunzehnten Jahrhundert die historische Antwort, welche die politische Kultur der Moderne auf die Herausforderung durch den religiösen Pluralismus gefunden hat.
Nachhaltiger Schub
Dazu hatte in Europa schon seit dem 18. Jahrhundert die Aufklärung wesentlich beigetragen. Sie veranlasste aber nicht nur viele zur Abwendung von Religion überhaupt, sondern löste auch innerhalb des Christentums selbst einen nachhaltigen Schub der Selbstreflexion aus, der schließlich zur Überwindung der ehemaligen Monopolansprüche aus eigener Überzeugung führte. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die Geltung individuellen Freiheitsrechte in der Neuzeit, vor allem des Rechts der religiösen Selbstbestimmung. Zuvor hatten in fast allen Kulturen, die wir kennen, die jeweils vor Ort herrschenden religiösen Glaubenssysteme mit dem Anspruch der alleingültigen Wahrheit für alle die Doppelrolle als individuelle Heilswege und als kollektive Rechtfertigung der sozialen Verhältnisse und der politischen Herrschaft gespielt und diesen Anspruch notfalls mit allen verfügbaren Mitteln durchgesetzt. Das galt in fast allen Zivilisationen als kulturelle Selbstverständlichkeit.
Purismus und Kompromissfeindschaft
„Fundamentalismus“ ist demgegenüber ein moderner Begriff, der in seiner sinnvollen, wissenschaftlich fundierten Verwendung auf solche Glaubens- und Handlungsformen in der modernen Welt bezogen ist, die den kulturellen Normen der individuellen Freiheit im Namen vermeintlicher religiöser oder weltanschaulicher „Wahrheit“ den Kampf ansagen. „Fundamentalistisch“ wird eine individuelle oder gemeinschaftliche Glaubenswahrheit erst dann, wenn sie ihren eigenen Gewissheitsanspruch für alle verbindlich machen will – gegen geistige Offenheit, individuelle Freiheit, Toleranz und religiöse Selbstbestimmung in Staat und Gesellschaft.
Das gilt für profane weltanschauliche Glaubensgewissheiten, wie im 20. Jahrhundert den Marxismus-Leninismus (nicht den ursprünglichen Marxismus) ebenso wie für jede Religion. Als ideologisches Gegenprinzip zu individueller Freiheit und geistigpolitischem Pluralismus kann der Fundamentalismus unter entgegenkommenden sozialen und politischen Bedingungen in allen modernisierten Gesellschaften auftreten, was tatsächlich ja auch weithin zu beobachten ist – in den USA sehr ausgeprägt, in Europa in wechselndem Maße aber auch. Er kann lange Zeit ein fast unsichtbares Randphänomen in Kleingruppen bleiben, aber dann in Situationen starker sozialer und politischer Krisen mit existenzieller Verunsicherung rasch zu einer mächtigen Kraft mit großer gesellschaftlicher Unterstützung anwachsen und sogar erfolgreich nach der politischen Macht im Staat greifen.