mk online: Jugendliche verbringen mehrere Stunden am Tag in sozialen Netzwerken, wo sie mit einer Flut an Bildern und Videos konfrontiert sind. Hat das Medium „Bild“ heute einen größeren Stellenwert als das der Sprache?
Sonja Lexel: Ich denke, dass man an dieser Stelle nicht verallgemeinern sollte. Schaut man auf Social Media, hat das Medium „Bild“ hier natürlich einen hohen Stellenwert und liegt deutlich über der Sprache, in dem Fall über den textlichen Beschreibungen und Erläuterungen unter den Bildern und Videos. Wir merken das ja vielleicht auch an uns selbst, dass wir primär über die Bilder scrollen und nur bei dem hängenbleiben, was uns in irgendeiner Weise anspricht – positiv, wie negativ. Nur bei den Beiträgen, bei denen wir hängenbleiben, schauen wir uns die vorhandene Beschreibung (sofern es denn überhaupt eine gibt) an.
Das bedeutet auch, dass Bilder und auch Videos die Medien sind, über die in den Social Media primär kommuniziert wird. Also muss ich selbst, wenn ich Inhalte für Social Media Plattformen produziere, darauf achten welche „Sprache“ meine Bilder und Videos sprechen und was ich mit meinen Bildern zum Ausdruck bringen will, da nur ein Bruchteil der Menschen, die den Beitrag sehen, auch die Beschreibung lesen. Auf Social Media bezogen kann man also schon sagen, dass Bilder hier einen großen Stellenwert haben, was aber auch in der Natur der Sache liegt. Da diese ja von der Ästhetik der Bilder leben und Bilder wie Videos grundlegend in den Konzepten der Plattformen vorgesehen sind, kann man hier kaum von einer Steigerung des Stellenwerts sprechen.
Anstatt da die „Konkurrenz“ zwischen Bild und Sprache zu sehen, würde ich vielmehr die geförderte Kreativität an dieser Stelle betonen: Für Instagram müssen Sie beispielsweise überlegen, wie Sie Ihre Botschaft möglichst in ein Bild packen können; für Twitter wiederum müssen Sie schauen, wie Sie Ihre Botschaft so übersetzen, dass Sie mit der begrenzten Zeichenzahl auskommen. Ich denke also schon, dass Sie durch die Mechaniken der Plattformen herausgefordert sind, über den Kern Ihrer Botschaft und die wesentlichen Merkmale nachzudenken und dass das auch nochmal eine andere Beschäftigung mit Ihren Inhalten sein kann, als wenn Sie ihn „nur“ sprachlich ausdrücken.
Natürlich hat die Kommunikationsart der Social Media auch Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Bereiche. Neue Berufe bilden sich und Werbung verändert sich. Und auch Sprache entwickelt sich ja stets weiter und bildet die gelebte Wirklichkeit ab. Trotzdem gibt es nach wie vor Bereiche, in denen Sprache einen hohen Stellenwert hat – und die wird es sicher auch immer geben. Ich denke also, dass es immer auf den Kontext ankommt, um zu beurteilen was wo wichtiger ist.
Immer wieder wird von der toxischen Wirkung gesprochen, die „perfekte“ Bilder in den sozialen Netzwerken haben: Sie führen angeblich zu Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstoptimierungszwängen, gerade bei Jugendlichen. Wie sehen Sie das?
Lexel: Hier sehe ich auch deutlich die gefährliche Seite von Social Media. Gerade weil sich vor viele junge Menschen, oft mit gleichaltrigen vergleichen und Influencerinnen und Influencer auch als Vorbilder ansehen, können diese scheinbar perfekten Eindrücke wirklich toxisch werden. Es wird auch dann schwierig, wenn sich junge Menschen so von der Wertung anderer abhängig machen, die sie auf Social Media sowohl gefragt, als auch ungefragt bekommen, dass sie diese Fremdwertung für die eigene Selbstwahrnehmung übernehmen.
Ich nehme hier aber auch eine Art Wandel wahr und sehe immer mehr Personen auf Social Media, die diese Anforderung „perfekt“ zu sein und das perfekte Leben zu haben, nicht mehr hinnehmen und unter Hashtags wie #fürmehrrealitätaufinstagram „unperfekte“ Seiten von sich zeigen und jungen Menschen Mut machen, sich anzunehmen wie sie sind und sich auch nicht blenden zu lassen, von den scheinbar perfekten Welten der Influencerinnen und Influencer.
Hier sehe ich die Medienpädagogik aber auch Kirche in der Funktion junge Menschen zu begleiten und zu thematisieren, wie sie mit Selbstoptimierungszwängen und Minderwertigkeitsgefühlen umgehen können, bzw. wie sie diesem oftmals äußeren Druck entgegentreten können. Zudem sollte ins Gespräch gebracht werden, dass Fehler sowie körperliche Eigenschaften, die nicht den gesellschaftlichen Idealen von Ästhetik entsprechen zum Menschsein dazu gehören und dass jede und jeder einen Umgang mit den Eigenheiten finden muss. Auch die noch so perfekt erscheinende Influencerin hat Herausforderungen zu bewältigen und schlechte Tage; hierfür muss Bewusstsein geschaffen werden und deutlich gemacht werden, dass man von den Menschen, die sich in Social Media präsentieren, natürlich nur das sieht, was diese einem zeigen möchten.
Kritische Stimmen beschweren sich häufig über das stupide, passive Reinstarren ins Smartphone der Jugendlichen. Was entgegnen Sie solchen Meinungen? Gibt es nicht auch eine neue Form der Kreativität, die durch die „neue Bilderflut“ entstanden ist?
Lexel: Genau das trifft es: die Social Media fördern durchaus die Kreativität und verbinden Menschen mit gleichen Interessen und das über kulturelle Grenzen hinweg. Sie können inspirierend sein und junge Menschen erleben sich dort auch als selbstwirksam, wenn sie andere wiederum inspirieren können. Das von außen betrachtete und wahrgenommene „stupide, passive Reinstarren“ ist in den meisten Fällen viel mehr. Junge Menschen begegnen online Inhalten und Botschaften mit denen sie ja auch etwas machen.
Beachtet man, dass sich junge Menschen ja mitten in der eigenen Identitätsfindung und –bildung befinden, kann man davon ausgehen, dass auch die Erfahrungen in den Social Media da mit reinspielen. Hier geht es dann auch um die Frage wie reflektiert junge Menschen mit dem Gesehenen umgehen. Statt über das „stupide, passive Reinstarren ins Smartphone“ den Kopf zu schütteln, könnte man auch versuchen, mit Jugendlichen über das, was sie dort sehen, ins Gespräch zu kommen. Wichtig ist dabei aber, eine Begegnung auf Augenhöhe; das kann die Horizonte beider Seiten erweitern.
Ein Foto oder Video aus dem Alltag zeigt immer nur einen winzigen Ausschnitt aus der Realität: Ein ausgeschlagenes Buch neben einer Kaffeetasse, daneben ein Blumenstrauß – und fertig ist das Bild eines perfekten, entspannten Morgens. Dass außerhalt des Bildausschnittes womöglich absolutes Chaos herrscht, Kinder im Hintergrund schreien und die Stimmung im Keller ist, sieht niemand. Was macht es mit Menschen, die ständig schöne Bilder in einer nicht immer schönen Welt produzieren?
Lexel: Oft erwecken die Social Media Profile von Menschen den Eindruck, dass dort ein Wunschbild des eigenen Lebens dargestellt wird. Wer hätte das nicht gern? Jeden Tag frische Blumen auf dem Tisch, eine frische Tasse Kaffee in der Hand, ein inspirierendes Buch und die Zeit dieses zu lesen. Dass das Leben oft aber nicht so läuft, weiß jede und jeder von uns. Wenn das die Realität wäre, bleibt außerdem die Frage, wie sehr man die guten, entspannten Momente zu schätzen wüsste.
Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir oft nur das Beste von uns zeigen wollen. Um zu den eigenen Fehlern (öffentlich) zu stehen, bedarf es neben Mut und Stärke auch der Selbstreflektion, dass diese Fehler absolut menschlich sind, dass diese zu einem gehören und dass man diese auch annehmen kann oder dieses zumindest versucht. Gibt man sich der Illusion hin, dass das „perfekte“ Leben, wie man es auf Instagram vielleicht zeigt und von vielen anderen gezeigt bekommt, der ganzen gelebten Realität entspricht, bleibt es am Ende doch nur eine Selbsttäuschung und in manchen Fällen sicher auch eine Verdrängung der eigenen Probleme und Unperfektheiten.
Die Eindrücke in den Social Media bleiben Ausschnitte der Realität und bilden einen Bruchteil des Daseins ab – das darf man nicht vergessen. Für einen Moment kann es vielleicht Zufriedenheit schaffen, wenn man sich sein „Social Media Ich“ anschaut, aber gerade wenn man durch diese digitale Selbstdarstellung, eigentliche Probleme versucht auszublenden oder zu verdrängen, wird die Zufriedenheit nicht von langer Dauer sein.
Verlernen wir es, durch das ständige Festhalten und mediale Aufbereiten unserer Erlebnisse, das analoge Leben unmittelbar und bewusst wahrzunehmen?
Lexel: Gerade, wenn man sich daran gewöhnt hat, viele Momente durch die Kamera des eigenen Smartphones zu erleben, sollte man sich meiner Meinung nach bewusst vornehmen, Momente wieder als einmalige Momente zu erleben. Natürlich erinnern uns Fotos auch nach Jahren noch an ein schönes Erlebnis, aber vielleicht sind die Erinnerungen an Erlebnisse, die wir wirklich erlebt haben, weil wir uns ganz darauf konzentriert haben, statt auf den Winkel und die Schärfe des Bildes, viel mehr wert.
Wenn wir den Moment bewusst erlebt haben, können wir uns vielleicht auch noch einmal mehr an die Emotionen, die wir dabei gefühlt haben, oder an die Gerüche erinnern. Das Erleben mit allen Sinnen kommt vermutlich zu kurz, wenn wir uns nur darauf fokussieren, das perfekte Bild oder die beste Aufnahme des Ereignisses zu machen. Zumal das ja auch enorm unter Druck setzt, immer bereit sein zu müssen abzudrücken, weil der beste Moment sonst vielleicht vorbei ist.
Dazu kommt die Frage, was wir mit den ganzen Bildern machen. Verstauben sie digital auf irgendwelchen Festplatten, auf denen ich sie mir wahrscheinlich nie wieder anschaue oder schaffe ich daraus etwas, dass mich vielleicht im Alltag an diese schönen Momente zurückerinnert? Ein Bild an der Wand, einen Kalender, ein Fotoalbum. Ich setze mich zum Beispiel von Zeit zu Zeit an den PC und sortiere die Bilder auf meinem Smartphone bewusst in Ordner ein, die dann Ort, Datum und Anlass auch nachvollziehbar machen. Zudem mache ich für mich jedes Jahr ein Fotobuch, in dem ich meine Jahreshighlights festhalte. Irgendwo habe ich einmal den Tipp gelesen, dass man von jedem Erlebnis nur 5 Bilder behalten soll – das fällt mir persönlich schwer, aber ich halte das für keinen schlechten Tipp. So beschränkt man sich auf das Wesentliche und hat vielleicht eher nochmal den Anstoß, diese Bilder auch wirklich anzuschauen.
Was durch das Aufbereiten der Bilder oft hinzukommt, ist, dass wir durch einfachste Techniken, Bilder ja auch massiv verändern könne: da schiebt man die Regler und Filter ein bisschen hin und her und plötzlich hat das Bild eine ganz andere Atmosphäre. An dieser Stelle muss man aufpassen, dass man dieses verzerrte Bild nicht als Realität annimmt und das so in der eigenen Erinnerung speichert. Meine klare Empfehlung ist daher, das Smartphone auch mal beiseite zu legen und den Moment bewusst zu erleben. Gerade wenn man es gewohnt ist alles in Bildern festzuhalten, muss man sich selbst vielleicht überreden, einmal nur im Moment zu sein, aber ich bin mir sicher, dass es sich lohnt und man so unbezahlbare Erinnerungen schaffen kann.