Theologie

Ist Gott eine Erfindung?

Diese Frage stellt sich der Jesuit Christian Kummer. Auf der Suche nach einer Antwort beleuchtet er verschiedene Modelle von Religionskritik.

Unter Selbsttranszendenz "nach oben" versteht man das Erleben des Heiligen oder Göttlichen, das einen Menschen unversehens und wie aus heiterem Himmel widerfahren kann. © ant - stock.adobe.com

Ein provokantes Thema für ein kirchliches Medium! Das fordert entrüstete Leserbriefe doch geradezu heraus, wenn da nicht sofort ein klares „Nein“ vom Verfasser kommt. Aber sachte, gemach! Ich denke, der Formulierung lässt sich theologisch durchaus etwas abgewinnen. Man muss ja „Erfindung“ nicht gleich abwertend verstehen, wie im alltäglichen Sprachgebrauch, als Reaktion auf eine unwahrscheinliche Geschichte: „Ist dir das wirklich passiert oder hast du das erfunden?“

Erfindung kann nämlich auch auf die geistige Tätigkeit eines Menschen abheben – als Lösung eines technischen Problems, die dann „patentiert“ wird, oder als Entwicklung eines theoretischen Modells zum besseren Verständnis der Wirklichkeit. So gesehen ist die Welt der Wissenschaften voller Erfindungen – nicht nur im technischen Sinn, sondern als kreatives Element auf dem Weg der Theoriebildung. Der Chemiker August Kekulé zum Beispiel hat die Strukturformel des Benzols nicht entdeckt, sondern sie ist ihm, wie er selbst schreibt, im Traum aufgegangen. Der berühmte Benzolring – seine Erfindung!

Ähnlich ist die Urknalltheorie, mit der die moderne Kosmologie die Entstehung des Universums beschreibt, eine Erfindung des belgischen Priesters Georges Lemaître, aber nicht dessen Entdeckung – wie sollte sie auch? Naturgesetze sind zu entdecken, Theorien werden erfunden – das ist (nicht ganz unproblematisch) die heute gängige Unterscheidung in der Wissenschaft.

Gott als Nutzenfaktor

Hilft uns das für unser Thema weiter? Gott ist kein Naturgesetz und keine Theorie. Dann also doch bloß erfunden im landläufigen Sinn des Wortes? Dieser Meinung ist die klassische Religionskritik. Für sie ist Gott eine vom Menschen erdachte Konstruktion, um die Jämmerlichkeit unseres Daseins, seine Begrenzungen und Unsicherheiten und vor allem das unabänderliche Faktum des Todes besser auszuhalten. Er ist erfunden im oben genannten, negativen Sinn: schön erdacht, aber ohne Sitz in der Wirklichkeit, wie zumindest die Aufgeklärten unter uns wissen. Der Grundfehler solcher Kritik ist, dass sie Gott auf eine Funktion reduziert, ihn bloß als Nutzenfaktor begreift, und das führt an seinem Wesen vorbei. Dass viele Gläubige in ihrer religiösen Praxis ähnlich denken, macht den religionskritischen Angriff natürlich umso leichter.

Ein zweites Feld ist die evolutionsbiologische Kritik. Hier wird gefragt, warum Religion eigentlich ein so unausrottbares Phänomen darstellt, wenn sich ihre Unhaltbarkeit doch so leicht erweisen lässt. Die Menschen lassen sich ihren Glauben ja einiges kosten, und diesen Aufwand hätte die natürliche Selektion längst ausgemerzt, wenn er nur überflüssiger Luxus wäre. Was ist es also, das die Gottesidee zu einer, wie es so schön heißt, „evolutionsstabilen Strategie“ macht? Es ist, so die Antwort, ihr Normen erhaltender Wert für den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe.

Offensichtlicher Betrug

Klar, wenn man die aufgestellten Regeln für ein einträchtiges Zusammenleben mit dem Hinweis auf eine kontrollierende überirdische Instanz sanktionieren kann, hat man als Anführer ein leichteres Spiel mit der eigenen Horde. Ihre dadurch erreichbare Geschlossenheit macht sie effektiver im Ressourcen-Kampf mit anderen Gruppen, denen ein solch einendes Band abgeht. Das wussten Staatslenker zu allen Zeiten und haben sich der Religion entsprechend bedient. Schade, könnte mancher Politiker stöhnen, dass das heute nicht mehr funktioniert. Warum? Weil der Betrug dahinter zu offensichtlich ist. Die Strategie klappt ja nur, wenn der, der sie einsetzt, seine Untergebenen in dem irrigen Glauben halten kann, die sanktionierende Instanz, Gott genannt, gäbe es tatsächlich.

Religion ist hier nicht mehr nur tröstender Selbstbetrug, sondern absichtlicher Fremdbetrug durch eine besondere Klasse von Besserwissenden! „Gildenbildung“ nennt der Evolutionspsychologe Pascal Boyer diese Abspaltung eingeweihter Religionsstrategen vom übrigen Volk und bewertet sie als Phase des beginnenden Untergangs einer etablierten Religion. Allzu lange werden sich nämlich die Schafe die Gängelung durch die auf ihre Sonderstellung bedachte Hirten nicht gefallen lassen, sondern, wie schon im biblischen Gleichnis, die Flucht davor ergreifen und auf eigene Faust eine neue Herde gründen. Solche Klerikalismus-Kritik kann angesichts der Situation heutiger Großkirchen durchaus mit Zustimmung rechnen; nur, Hand aufs Herz, was erklärt sie eigentlich für unser Thema? Doch eher, wozu man die Gottesidee missbrauchen kann, als wie sie zustande kommt.

Gott als Illusion

Weiterführend scheint ein dritter kritischer Ansatz, der von der Hirnforschung herkommt und, etwas übergriffig und vorschnell, als „Neurotheologie“ bezeichnet wird. Es geht hier um den Nachweis, wie sich religiöse Wahrnehmungen und Empfindungen mit definierten neuronalen Prozessen (auch krankhaften beziehungsweise genetischen) in Verbindung bringen lassen, und sogar experimentell (durch Verabreichung halluzinogener Drogen oder magnetische Stimulation bestimmter Gehirnareale) hervorgerufen werden können. Solche Befunde sind natürlich in der Tat zunächst verstörend: Was man bisher für Gott gehalten hat, ist weder bloß menschliche Erfindung oder Betrug, sondern schlicht eine Illusion! Nicht Gott bewirkt etwas in uns, sondern molekulare Prozesse in unserem Gehirn bewirken ihn!

Das Anstößige daran darf aber nicht zum Grund dafür werden, sich jeglicher Kenntnisnahme von Forschungsergebnissen auf diesem Gebiet zu verweigern. Denn auch der überzeugteste Gläubige kann nicht umhin zuzugeben, dass seine Gottesvorstellung im Gehirn entsteht, und darum auch mit neuronalen Prozessen zu tun hat. Insofern können sich Ergebnisse der Hirnforschung, sofern sie denn solide sind, durchaus auch erhellend für die Theologie erweisen, was dann einer „Neurotheologie“ eigentlich erst ein Recht auf diesen Namen gäbe.

Selbsttranszendenz und Gottesmodell

Nimmt man statt bloß neuronaler Mikrozustände auch die Makroebene des Bewusstseins in den Blick, ist es durchaus keine Überraschung, dass es hier Phänomene gibt, die als natürliche Voraussetzung für religiöse Erfahrung gelten können. So hält etwa der Soziologe Hans Joas unsere Fähigkeit zur Selbsttranszendenz für eine solche Voraussetzung, „ohne die wir nicht verstehen können, was Glaube, was Religion eigentlich ist“ [Braucht der Mensch Religion? Freiburg (2004) 17]. Selbsttranszendenz bezeichnet den Drang des Menschen, die Grenzen seines bewussten Ichs zu überschreiten. Das geschieht schon in jedem Wissensfortschritt unserer Erkenntnisbemühung und äußert sich in der Befriedigung, ja dem Glücksgefühl, mehr vom Geheimnis der Wirklichkeit verstanden zu haben. Und erst recht, dazu bedarf es in unserer heutigen Dauer-Feiergesellschaft fast keines Hinweises, wird Selbsttranszendenz als Ich-Entgrenzung im gemeinschaftlichen Rausch und Exzess erlebt.

Neben einer solchen „Selbsttranszendenz nach unten“, wie der Schriftsteller Aldous Huxley das (aus eigener Erfahrung) nennt, gibt es aber auch eine Selbsttranszendenz „nach oben“ als Entrückung in den Bereich des Erhabenen und Universalen. Dazu gehört das Erleben des Heiligen oder Göttlichen, das einen Menschen unversehens und wie aus heiterem Himmel widerfahren kann. Zeugnisse dafür gibt es zuhauf, und sie sind oft von einer Qualität, die allem billigen Skeptizismus widersteht. Ein Blick auf die Beispiele in William James’ berühmtem Werk „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ kann uns darüber belehren. Nur, derartige Erlebnisse sind kein Dauerzustand und auch kein bleibender Besitz. Nach ihnen stellt sich, ähnlich wie beim sinnlichen Exzess, leicht der Katzenjammer ein: Wie geht das, was ich eben als so außerordentliches Ereignis erlebt habe, mit dem zusammen, wie mir diese buckelige Welt sonst vorkommt?

Erfindung des eigenen Gottesmodells

Wie verändert das Erlebnis religiöser Selbsttranszendenz meine bisherige Sicht von Gott und Welt? Genau an diesem Punkt beginnt die Modellbildung. Ich versuche, mein neuartiges Erlebnis des Göttlichen mit bisherigen Gottesbildern zusammen zu bringen und stelle fest, dass es jene an Überzeugungskraft und Gewissheit bei weitem übertrifft. Das versuche ich in mein Gottesbild aufzunehmen – und merke, dass ich dabei bin, mein erstes eigenes Gottesmodell zu „erfinden“! Das ist natürlich alles andere als perfekt und bleibt weit hinter dem zurück, was mich im ursprünglichen Erlebnis an Ganzheits- und Jenseitsahnung der Wirklichkeit erfüllt hat. Das macht aber nichts; Erfindungen sind verbesserungsfähig.

Es kommt nur darauf an, dass mein „Modell von Gott“ das wesentliche Moment religiöser Selbsttranszendenz in mir weiter transportiert: mich in Gebet und Tun in Bewegung zu halten hin auf ein letztes, alle Erfahrung übersteigendes Ziel der Wirklichkeit – das „unsagbare Geheimnis, Gott genannt“ (K. Rahner). Freilich weiß ich, dass für Sigmund Freud ein solches Ziel nur Wunschdenken ist, eine Projektion des menschlichen Geistes ohne allen Wirklichkeitswert. Aber, bei all seinen Verdiensten (und Irrtümern), was machte ihn da so sicher? (Christian Kummer SJ)

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