Menschen, die arm, krank oder verschuldet sind, schämen sich oftmals für ihr Schicksal und wollen nicht unter ihrem echten Namen in der Öffentlichkeit auftreten. So auch die 62-jährige Münchnerin, die gerne Selina Möller genannt werden möchte. Bei dem Namen strahlt sie über das ganze Gesicht. Ungemein freundlich wirkt die schlanke Frau mit den großen Augen hinter ihrer Brille, obwohl sie immer wieder scheu auf den Boden schaut.
Möller war schon als kleines Mädchen etwas anders als ihre beiden Geschwister. Zweimal hatte sie eine schwere Gehirnhautentzündung und lag viele Wochen im Krankenhaus. Das sei sehr schlimm und schmerzhaft gewesen, erinnert sie sich. Später besuchte sie eine Förderschule und tat sich schwer mit den Lerninhalten. Grund dafür ist eine kognitive Einschränkung. „Lesen geht, Schreiben auch, aber Rechnen geht gar nicht. Da nehme ich meinen Taschenrechner“, erzählt sie noch etwas aufgeregt.
Leben mit Grundsicherung
Möller hat keinen Beruf und keine Ausbildung. Bis sie 23 Jahre alt war, habe sie bei den Eltern gelebt, dann sei sie in eine betreute Wohngemeinschaft gezogen. Mit 16 Jahren hat sie die Schule beendet und angefangen, eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu besuchen. In der Elektroabteilung der Caritas-Werkstatt für Menschen mit Behinderung an der Thalkirchner Straße in München arbeitete sie Jahrzehnte, bis sie dort mit 59 Jahren in den Ruhestand ging.
Seither lebt Möller in ihrer kleinen Münchner Wohnung von Grundsicherung und muss auf jeden Cent achten. „Alles ist so teuer geworden: Miete, Strom, Lebensmittel und Kleidung. Überall merkt man es.“ Wenn sie ein bisschen mehr Geld zur Verfügung hätte, würde sie so gerne mal wieder in einem Restaurant essen gehen oder einen Ausflug nach Gut Aiderbichl machen, um dort Pferde, Esel, Schweine, Katzen und Hunde zu beobachten und zu streicheln.
Zum Erhalt der Selbstständigkeit
Angela Flexeder vom Ambulant Begleiteten Wohnen der Caritas, die Möller rund zweimal die Woche persönlich aufsucht oder anruft, bemerkt: „Sie ist so geerdet und sparsam, bräuchte aber dringend ein paar gute haltbare Winterschuhe und warme Winterkleidung. Sachen, die bei Schnee und Regen nicht durchweichen und nicht nur eine Saison halten.“ Sparsamkeit und Bescheidenheit hätten ihr die Eltern beigebracht, ergänzt Möller.
Möller und Flexeder kennen sich seit über zehn Jahren. Die Sozialpädagogin sowie ihre zehn Kollegen begleiten in München 30 Menschen mit Krankheiten oder Einschränkungen in deren Lebensumfeld. „Wir führen Gespräche zur Erhaltung der Selbstständigkeit, damit die Frauen oder Männer möglichst lange allein zuhause leben können. Wir füllen gemeinsam Anträge aus, heften Kontoauszüge ab, sortieren die Post, gehen einkaufen oder kochen zusammen“, schildert Flexeder. Es gehe nicht darum, den Haushalt zu übernehmen, sondern pädagogisch zu unterstützen und zu motivieren. „Es ist im Grunde eine reine Beziehungsarbeit.“
Möller mag es, wenn sie Besuch bekommt: „Frau Flexeder hilft mir auch bei meinem Computer und meinem Handy.“ Zwischen ihnen sei ein echtes Vertrauensverhältnis entstanden. „Wenn die ganzen Anträge, zum Beispiel auf Grundsicherung, nicht so kompliziert wären, würde ich das auch selber machen“, betont Möller und schaut wieder beschämt zu Boden, als es um ihre kurze Ehe geht. „Er hat mich schlecht behandelt und geschlagen.“ Das habe ihr Vertrauen in Menschen und vor allem Männer schwer erschüttert.
Begleitung für Ausflüge gesucht
Dennoch wünsche sie sich mehr Gesellschaft oder eine richtig gute Freundin. „Eine ehrenamtliche Begleitung für regelmäßige Ausflüge in ein Café oder Kino- und Theaterbesuche wären für Selina eine echte Bereicherung“, erläutert die Sozialarbeiterin und weist darauf hin, dass Begleitpersonen von Menschen mit Schwerbehindertenausweis bei kulturellen Veranstaltungen meist freien Eintritt genießen. Gesellschaftliche Teilhabe sei für Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen immer noch das Wichtigste.
„Selina ist eine jung gebliebene, aufgeschlossene und unternehmungslustige Frau, die gerne unter Menschen ist.“ Für Schlagermusik habe sie ein besonderes Faible. Ein Herzenswunsch stehe ganz oben auf ihrer Liste: „Ich möchte den Patrick Lindner treffen, weil der nett und bodenständig ist. Ich habe alle CDs von ihm“, strahlt die lebensbejahende Frau, und man spürt deutlich, dass sie davon schon lange träumt. (Marion Müller-Ranetsberger, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Caritasverband der Erzdiözese)
