München – Sie bilden die Doppelspitze des Erzbischöflichen Ordinariats München (EOM): Generalvikar Christoph Klingan und Amtschefin Dr. Stephanie Herrmann. In den vergangenen Wochen standen beide im Zentrum des öffentlichen Interesses: Zusammen hatten sie am 20. Januar das externe Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019“ als Auftraggeber von der beauftragten Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) entgegengenommen.
Zu Inhalten des Gutachtens nahmen sie dann zusammen mit Kardinal Reinhard Marx nach einer ersten Prüfung bei einer Pressekonferenz am 27. Januar in der Katholischen Akademie in München Stellung.
mk online: Gut drei Wochen nach Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens. Wie geht es ihnen beiden?
Generalvikar Christoph Klingan: Es ist eine nach wie vor sehr intensive Zeit. Das Gutachten beschäftigte uns schon vor seiner Veröffentlichung, auch wenn wir die Inhalte noch nicht kannten. Die Auseinandersetzung damit prägt natürlich derzeit nicht nur unsere alltägliche Arbeit, sondern treibt uns auch innerlich um. Es ist ein weiterer wichtiger Baustein bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bereich des Erzbistums. Wir werden den Weg der Aufarbeitung weiter Schritt für Schritt und konsequent verfolgen.
Amtschefin Dr. Stephanie Herrmann: Es sind herausfordernde Wochen. Die Auswertung des Gutachtens läuft noch, es ist mit fast 1.900 Seiten auch sehr umfangreich. Und natürlich haben wir den Anspruch, uns gründlich damit auseinanderzusetzen, um Fragen nach weiteren notwendigen Schritten fundiert beantworten zu können.
Was ist Ihnen, wenn Sie zurückblicken, am eindrücklichsten von dieser Pressekonferenz am 20. Januar im Haus der Bayerischen Wirtschaft in Erinnerung geblieben?
Herrmann: Eindrücklich war und ist für mich das Gefühl und das Wissen, dass im Raum auch zwei Betroffene aus unserem Betroffenenbeirat saßen. Mir kam häufig der Gedanke: „Wie geht es ihnen wohl jetzt?“
Klingan: Die Intensität dessen, was, teilweise auch sehr emotional, von den Gutachtern vorgetragen wurde, hat mich sehr beschäftigt, verbunden mit dem Gedanken, was das für die Betroffenen bedeutet. Und ich habe daran gedacht, was es für unsere Mitarbeitenden in der Erzdiözese, die die Veröffentlichung des Gutachtens ebenfalls verfolgt haben, bedeutet.
Hätten Sie den Kardinal in dieser Stunde gern an Ihrer Seite gehabt?
Klingan: Wir haben im Vorhinein intensiv mit Kardinal Marx darüber gesprochen, ob es sinnvoll ist, dass er zur Veröffentlichung des Gutachtens persönlich kommt. Er hat es nachher ja auch selbst erklärt: Ihm ging es darum, dass die Veröffentlichung des Gutachtens an diesem Tag im Mittelpunkt stehen sollte und nicht seine Person. Der zweite Aspekt war, dass wir, Amtschefin und Generalvikar, formal die Auftraggeber des Gutachtens für die Erzdiözese waren und der Erzbischof und sein Handeln auch Teil der Untersuchung war. Von daher erschien es sinnvoll, dass der Kardinal die Entscheidung getroffen hat, nicht persönlich anwesend zu sein. Natürlich kann man das auch anders sehen, das ist völlig unbestritten und es wurde hinterher ja auch kritisiert, das ist legitim. Es war eine Abwägung.
Hinterher gab es Stimmen, die gefragt haben, warum Sie, Frau Herrmann, das schwere Konvolut gestemmt haben und nicht der GV. War das so abgesprochen, spontane Choreografie oder steckte gar eine tiefere Symbolik dahinter?
Herrmann: Sicher keine tiefere Symbolik, nur Pragmatik in Coronazeiten. Es war eigentlich vereinbart, dass die Bände von den Vertretern der Kanzlei einzeln auf den Tisch gelegt werden, so dass jeder von uns beiden jeweils zwei hätte nehmen können. Da die Bücher nun aber zusammen in einem Schuber auf dem Tisch standen und ich schlicht näher am Tisch stand, nahm ich einfach spontan das Paket an mich. Nach seinem Statement hat es der Generalvikar genommen und wir haben es ins Ordinariat gebracht.
Was haben Sie in den darauffolgenden Stunden und Tagen gemacht?
Herrmann: Als erstes haben Generalvikar Klingan und ich den Betroffenenbeirat besucht, dessen Mitglieder noch am selben Abend ihre Sitzung hatten und die uns dazu eingeladen hatten. Dieser erste Austausch war für uns alle sehr wertvoll. Und dann mussten wir natürlich unsere eigene Pressekonferenz vorbereiten, klären, was wir zum jetzigen Zeitpunkt kommunizieren können und vor allem, wie wir jetzt selbst ins aktive Handeln kommen.
Welche Gefühle hat man, wenn man Menschen, Kollegen und Amtsträgern plötzlich im Licht des Gutachtens ganz anders sehen und bewerten muss?
Klingan: Es ist auf jeden Fall eine herausfordernde Situation, weil wir ja auch im Vornherein nicht wussten, was in dem Gutachten drinsteht. Natürlich wussten wir, dass bestimmte Personen bestimmte Funktionen im Untersuchungszeitraum innehatten und damit auch bestimmte Verantwortlichkeiten verbunden waren. Aber wir wussten nicht, was das Gutachten Einzelnen konkret zur Last legen oder vorwerfen wird. Für mich war es insofern auch nicht einfach, bei der Veröffentlichung manches an Bewertungen und Einordnungen zu hören. Andererseits war für mich auch klar, dass die Betreffenden, die genannt wurden, nun selbst die Gelegenheit haben, sich dazu zu verhalten und Stellung zu nehmen, und dass die Diskussion an diesem Punkt noch nicht beendet ist.
Ihr Amtsvorgänger Peter Beer sagte, er könne aufgrund seiner Erfahrungen bei der Missbrauchsaufarbeitung keinen Priesterkragen mehr tragen. Sie tragen noch einen, Herr Generalvikar ...
Klingan: Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er diesen Schluss für sich ja aus der Begegnung mit Betroffenen gezogen. Für diese sei es unerträglich, wenn ihr Gegenüber einen Priesterkragen trägt. Meine Erfahrung aus vielen Gesprächen, auch in jüngster Zeit mit Betroffenen im Betroffenenbeirat und darüber hinaus, ist aber auch, dass es für manche wichtig ist, einen Vertreter der Institution als Gegenüber zu haben, an den sie sich mit ihrer Klage und ihren berechtigten Vorwürfen wenden können. Ich denke, dass vor diesem Hintergrund der Priesterkragen das richtige Kleidungsstück sein kann. Ob er das immer ist, will ich dahingestellt sein lassen, aber so pauschal würde ich nicht sagen, dass es im Kontakt mit Betroffenen verkehrt ist, wenn der Vertreter der Institution auch entsprechend als solcher erkennbar ist.
Herrmann: Oft wurde uns gegenüber von Betroffenen auch der Wunsch nach einem Priester als Ansprechpartner geäußert, auch aus dem Betroffenenbeirat. Deshalb wird nun auch eine Stelle für einen Seelsorger, an den sich Betroffene wenden können, eingerichtet. Vermutlich ist es aber sehr individuell, was einem/einer Betroffenen lieber ist, pauschal kann man das nicht sagen.
Schließlich kam der 27. Januar, der Tag der Pressekonferenz in der Katholischen Akademie. Wie war die Stimmung bei Ihnen beiden? Mit welchen Gefühlen sind sie in die Pressekonferenz gegangen?
Herrmann: Natürlich waren wir sehr angespannt, weil wir auch nicht wussten, was auf uns zukommt, welche Fragen gestellt werden und ob wir eine Chance haben, mit dem, was uns wichtig ist, durchzudringen.
Und hinterher?
Klingan: Im Nachhinein hatte ich den Eindruck, dass wir die Botschaften, die wir anbringen wollten, auch anbringen konnten. Es war natürlich unklar, wie sich das in der Berichterstattung niederschlagen würde und welche Fragen letztlich aufgegriffen würden. Insofern war ich hinterher weniger entspannt, sondern vielmehr gespannt, was berichtet werden würde.
Waren Sie letztlich dann zufrieden mit der Berichterstattung?
Klingan: Was ich bedaure, ist, dass, soweit ich es sehe, die Perspektive der Betroffenen wieder stärker in den Hintergrund getreten ist und die Frage der Verantwortlichkeiten sehr stark im Fokus stand. Ich verstehe das im Hinblick auf die mediale Wahrnehmung und es war uns mit der Beauftragung des Gutachtens ja auch ein Anliegen, dass Verantwortlichkeiten benannt werden. Dennoch bin ich der Meinung, dass im Zentrum die Betroffenen stehen sollten. Das ging meiner Ansicht nach etwas unter. Und auch die positiven Akzente, die wir bereits gesetzt haben, fanden in der Berichterstattung leider wenig Berücksichtigung, mit Ausnahme vielleicht der Anlauf- und Beratungsstelle. Denn es ist ja nicht so, dass wir in den vergangenen Monaten und Jahren nichts getan hätten.
Kardinal Marx hat in der PK nicht seinen Rücktritt erklärt. Das kam für viele überraschend. Wie ging es Ihnen?
Herrmann: Ich fand das nicht überraschend. Kardinal Marx hatte im vergangenen Jahr seinen Amtsverzicht angeboten, der Papst hat das nicht angenommen. Ich denke, damit war auch der klare Auftrag verbunden, den Kurs jetzt fortzusetzen, den man hier in der Erzdiözese eingeschlagen hat, auch mit verschiedenen strukturellen Änderungen, die Aufarbeitung voranzutreiben, und die Schritte, die auch schmerzhaft sind, weiterzugehen. Der Kardinal hat es ja auch pointiert umschrieben: „Ich mach‘ mich nicht vom Acker.“
Ich zitiere ein weiteres Statement von ihm: „Ich bin bereit, auch weiterhin, meinen Dienst zu tun, wenn das hilfreich ist für die weiteren Schritte, die für eine verlässlichere Aufarbeitung, eine noch stärkere Zuwendung zu den Betroffenen und für eine Reform der Kirche zu gehen sind. Falls ich den Eindruck gewinnen sollte, ich wäre dabei eher Hindernis als Hilfe, werde ich das Gespräch mit den entsprechenden Beratungsgremien suchen und mich kritisch hinterfragen lassen. In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir allein ausmachen.
Letztlich wäre es demnach wohl an Ihnen beiden, im Falle eines Falles dem Kardinal sagen zu müssen: Es geht nicht mehr, tritt bitte zurück.
Klingan: Ich glaube, mit „Gremien“ sind mehr gemeint als wir beide, Frau Dr. Herrmann und ich. Meiner Ansicht nach ist dieser Akzent tatsächlich wichtig. Nach seinem ersten Angebot des Amtsverzichts, zu dem sich der Kardinal mehr oder minder alleine entschied, ist jetzt der klare Anspruch, dass Gremien wie der Diözesanrat, das Domkapitel, der Priesterrat und auch die beiden neu für die Aufarbeitung gebildeten Gremien, Aufarbeitungskommission und Betroffenenbeirat, wichtige Beratungsorgane sind, die er miteinbeziehen will. Entscheidend ist, wie der Erzbischof seinen Dienst für und in der Erzdiözese gut ausüben kann, und das will und kann er nicht allein seiner eigenen Beurteilung überlassen.
Aber Sie würden es sich im Fall des Falles schon zutrauen, aus Höflichkeit darüber hinwegzugehen, sondern ihm schon zu sagen „Herr Kardinal, es geht nicht mehr“?
Klingan: Ich kenne ihn lange und glaube, sagen zu können, dass ich ein offenes Wort mit ihm pflege. Wenn ich daher die Situation so einschätzen würde, dass der Erzbischof sein Amt nicht mehr ausüben könnte, würde ich es ihm offen sagen.
Es war in allen Statements viel von Veränderungen die Rede., die sie gemeinsam mit dem Kardinal in Gang bringen möchten, Sie selbst, Herr Generalvikar, sagten: „Es geht darum, dass wir mehr vom Reden ins Tun kommen und dabei möglichst zügig die richtigen Schritte setzen“. Können Sie hier stichpunktartig ein paar konkrete Beispiele nennen?
Klingan: Zwei Akzente haben wir bereits gesetzt beziehungsweise angebahnt: die Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene, die seit dem 20. Januar schon intensiv angenommen worden ist und die jetzt dauerhaft eingerichtet werden soll. Gleiches gilt auch für die Einrichtung einer Seelsorgestelle für Betroffene sexuellen Missbrauchs, wo Menschen mit spezifischen Qualifikationen zur Verfügung stehen werden.